Integralrechnung¶
Um Flächen zu bestimmen, die von krummlinigen Funktionsgraphen und der -Achse eingeschlossen werden, entwickelte der Mathematiker Bernhard Riemann die Integralrechnung. Der Grundgedanke hinter den so genannten „Riemann-Summen“ ist, dass sich jede derartige Fläche in eine Vielzahl von schmalen Rechtecken zerlegen lässt, wobei die Grundseiten aller Rechtecke auf der -Achse liegen und die Höhen der Rechtecke durch die Funktionswerte an den jeweiligen Stellen gegeben sind. Die Summe der Flächen aller Rechtecke ergibt dann die Fläche zwischen dem Funktionsgraph und der -Achse.
Je nachdem, ob man als Höhe jedes Rechtecks jeweils den kleineren oder größeren der Funktionswerte beider Randpunkte wählt, füllen die Rechtecke die Fläche unterhalb des Funktionsgraphen entweder nicht ganz aus, oder sie ragen stets an einer Seite über den Funktionsgraphen hinaus. Die Summen der so gewählten Rechteck-Flächen werden dementsprechend als Untersumme bzw. Obersumme bezeichnet. Für Unterteilungen mit einer Breite von jeweils gilt:
Für die Fläche unterhalb des Funktionsgraphen zwischen den zwei Punkten und gilt somit:[1]
Unterteilt man bei einer beliebigen Funktion den Bereich zwischen und in eine größere Zahl an schmaleren Rechtecken, so lassen sich die Abweichungen der einzelnen Rechteckshöhen von den jeweiligen Funktionswerten verringern und damit die Werte der Unter- und Obersumme angleichen. Bei einer (theoretischen) Unterteilung in unendlich viele, dafür beliebig schmale Rechtecke haben die Unter- und Obersumme den gleichen Grenzwert, der mit der gesuchten Fläche identisch ist.
Mathematisch wird die Annäherung der Ober- und Untersumme bei unendlich vielen, infinitessimal kleinen Unterteilungen durch das so genannte Integralzeichen anstelle von gekennzeichnet. Zudem wird anstelle von für die Breite jedes einzelnen Rechtecks geschrieben:
Der Ausdruck wird dabei Integral von über genannt. Die Funktion wird als Integrand und bzw. als Integrationsgrenzen bezeichnet.
Integrierbarkeit und Stammfunktion¶
Ein Integral einer Funktion über das Intervall lässt sich immer dann eindeutig berechnen, wenn die Funktion stetig ist, der Funktionsgraph also keine Sprünge aufweist. Das gleiche gilt für bereichsweise definierte Funktionen, die in den einzelnen Bereichen Stetigkeit aufweisen und beschränkt sind, also keine Unendlichkeitsstellen besitzen. Jede Funktion, die diese Bedingung erfüllt, wird integrierbar genannt.
Der Wert eines Integrals lässt sich am einfachsten berechnen, wenn man zur gegebenen Funktion eine so genannte „Stammfunktion“ findet. Eine solche Stammfunktion hat die Eigenschaft, dass ihre erste Ableitung gerade der ursprünglichen Funktion entspricht. Als Zusammenhang zwischen der Stammfunktion und der zu integrierenden Funktion gilt für alle also:
(1)¶
Die Integration kann also als Umkehrung der Differentiation angesehen werden. Während jedoch das Ableiten einer Funktion stets ein eindeutiges Ergebnis liefert, ist die Bestimmung der Stammfunktion nicht eindeutig: Ist eine Stammfunktion von , so ist jede Funktion mit einer additiven Konstante ebenfalls eine Stammfunktion von , da ein konstanter Term beim Ableiten stets den Wert Null ergibt. Die Gesamtheit aller Stammfunktionen wird „unbestimmtes Integral“ genannt und mittels , also ohne konkrete Integrationsgrenzen geschrieben.
Anfangsbedingung und Integralfunktion
Aus der Menge aller Stammfunktionen soll üblicherweise eine bestimmt werden, die durch einen gegebenen Punkt verläuft. Eine solche Forderung nennt man Anfangsbedingung.
Soll das Integral von einer festen Grenze bis zu einer variablen Grenze verlaufen, so ist das Integral gleich Null, wenn ist, da in diesem Fall keine Fläche aufgespannt wird. Die Anfangsbedingung besteht somit darin, dass die Stammfunktion an der Stelle eine Nullstelle aufweisen muss. Es muss also gelten:
Dieser Gedanke folgt daraus, dass man als so genannte Integralfunktion interpretiert, die jeweils den Wert des Integrals liefert, wenn die untere Grenze und die oberen Grenze entspricht. Mit der obigen Anfangsbedingung erhält man somit als Wert für das bestimmte Integral über die Funktion von bis :
(2)¶
Als Kurzschreibweise ist hierbei üblich. Möchte man das Integral über eine Funktion zwischen zwei bestimmten Grenzen und berechnen, so genügt es also, die Stammfunktion zu bestimmen, die Werte und in die Stammfunktion einzusetzen und die Differenz beider Werte zu berechnen:
(3)¶
Die Schwierigkeit bei der Integralrechnung besteht folglich darin, eine Stammfunktion zur gegebenen Funktion zu finden.
Grundintegrale¶
Von den elementaren Funktionen sowie einigen Kombinationen dieser Funktionen gibt es unmittelbare Lösungsformeln zur Bestimmung der jeweiligen Stammfunktion.
Integralregeln für Potenz- und Wurzelfunktionen
Ist die Funktion mit eine konstante Funktion, so gilt für die Stammfunktion :
(4)¶
Anschaulich entspricht der Wert von der Fläche des Rechtecks mit der Breite , das zwischen der konstanten Funktion und der -Achse liegt und die Länge hat.
Ist die Funktion eine allgemeine Potenzfunktion mit der Einschränkung , so gilt für die Stammfunktion :
(5)¶
Dieses Ergebnis folgt daraus, dass die Ableitung der Funktion dem Term entspricht. Die ursprüngliche Funktion unterscheidet sich lediglich um den Faktor von diesem Ableitungsterm.
Ist beispielsweise , also , so ist eine Stammfunktion. Anschaulich entspricht der Term der Fläche eines Dreiecks, das zwischen dem Graphen und der -Achse liegt; diese Fläche ist gleich der Hälfte der Quadratfläche von .
Integrale von linearen Funktionen treten in den Naturwissenschaften häufig auf, beispielsweise gilt für die zurückgelegte Wegstrecke bei einer Bewegung mit konstanter Beschleunigung , wobei in diesem Fall die Integrationsvariable die Zeit ist. Weitere Beispiele sind die Bewegungs- und Spannenergie, usw.
Die obige Integrationsregel (5) gilt wegen des Zusammenhangs auch für Wurzelfunktionen. Beispielsweise gilt im Fall mit :
Ist mit , so ist eine Anwendung der obigen Regel (5) nicht möglich. Für diesen Sonderfall gilt vielmehr folgender Zusammenhang:
Die Stammfunktion der Hyperbelfunktion ist also die natürliche Logarithmusfunktion .[2]
Integralregeln für Exponentialfunktionen
Ist mit als Eulerscher Zahl, so gilt für die Stammfunktion :
(6)¶
Ebenso wie die natürliche Exponentialfunktion beim Ableiten unverändert bleibt, so bleibt sie auch beim Integrieren unverändert.
Ist mit und , so gilt für die Stammfunktion :
(7)¶
Auch die allgemeine Exponentialfunktion ergibt beim Integrieren wieder eine Exponentialfunktion, wobei der Vorfaktor berücksichtigt werden muss.
Integralregeln für trigonometrische Funktionen und Arcusfunktionen
Ist , so gilt für die Stammfunktion :
(8)¶
Dieser Zusammenhang ergibt sich daraus, dass die Ableitung der Cosinusfunktion der negativen Sinusfunktion entspricht.
Ist , so gilt für die Stammfunktion :
(9)¶
Dieser Zusammenhang ergibt sich daraus, dass die Ableitung der Sinusfunktion der Cosinusfunktion entspricht.
Zusammenfassung wichtiger Integrationsregeln¶
Für jedes Integral gelten folgende Eigenschaften:
Vertauscht man die obere und die untere Integrationsgrenze, so ändert das Integral sein Vorzeichen:
(10)¶
Der Grund dafür liegt darin, dass hierbei die Breiten aller Rechtecke für ein negatives Vorzeichen bekommen und somit bei der Auswertung des Integrals über gleich große, aber negative Werte summiert wird.
Ist die obere Integrationsgrenze gleich der unteren Grenze , so ist das Integral für jede beliebige Funktion gleich Null:
(11)¶
Anschaulich lässt sich dies dadurch erklären, dass die Fläche zwischen und eine Breite von Null hat.
Jedes Integral lässt sich auf folgende Weise in zwei Teilintegrale zerlegen:
(12)¶
Ist , so ist umittelbar einleuchtend, dass die Fläche zwischen und gleich der Summe der Teilflächen sein muss, da sich das Intervall in zwei Teilintegrale zerlegen lässt und die entsprechenden Teilsummen gebildet werden können.
Die Regel gilt jedoch auch dann, wenn außerhalb von liegt; ist beispielsweise , so wird die – gegenüber dem Gesamtintegral – mit dem ersten Teilintervall zusätzlich addierte Fläche aufgrund der Vorzeichenregel (10) durch das zweite (negative) Teilintegral wieder subtrahiert.
Lässt sich eine zu integrierende Funktion als Summe zweier Funktion und darstellen, so ist das Ergebnis gleich der Summe der Integrale beider Funktionen:
(13)¶
Die obige Regel entspricht formal dem Distributivgesetz.
Lässt sich eine zu integrierende Funktion als Produkt einer Funktion und eines konstanten Faktors darstellen, so kann dieser vor das Integral gezogen werden:
(14)¶
Die obige Regel entspricht dem Assoziativgesetz der Multiplikation. Anschaulich kann man sich jeden Funktionswert und damit die Höhe aller zu addierenden Rechtecke um den Faktor gestreckt denken.
Erfüllen zwei Funktionen und für jeden beliebigen Wert innerhalb des Intervalls die Bedingung , so gilt:
Bestimmung der Fläche zwischen zwei Graphen
Mittels der Integralrechnung kann nicht nur die Fläche zwischen einem Funktionsgraph und der -Achse, sondern auch die zwischen zwei Funktionsgraphen und in einem Intervall eingeschlossene Fläche berechnet werden. Verläuft der Graph von oberhalb des Graphen von , gilt also für alle , so entspricht die gesuchte Fläche folgendem Integral:[3]
(15)¶
Schneiden sich Schnittpunkte zweier Funktionen, so müssen zunächst die Schnittstellen berechnet werden; anschließend kann einzeln von Schnittstelle zu Schnittstelle integriert werden. In jedem einzelnen Teilintervall wird dabei die Funktion mit den niedrigeren Funktionswerten von der Funktion mit den höheren Funktionswerten subtrahiert.
Integrationsmethoden¶
In vielen Fällen, insbesondere bei zusammengesetzten Funktionen, lässt sich eine Integration nicht mittels der oben genannten Grundintegrale durchführen. In solchen Fällen können allerdings oftmals weitere Integrationsmethoden angewendet werden.
Partielle Integration
Die Methode der partiellen Integration entspricht formal einer umgekehrten Anwendung der Produktregel bei Ableitungen:
(16)¶
Diese Methode kann immer dann genutzt werden, wenn die zu integrierende Funktion als Produkt zweier Teilfunktionen geschrieben werden kann. Lässt sich eine dieser Funktionen leicht integrieren, so setzt man diese als ; die andere Teilfunktion, die sich möglichst leicht ableiten lassen sollte, wird als gesetzt. Das Integral kann dann berechnet werden, indem man zunächst als Zwischenergebnis das Produkt von und der Stammfunktion von bildet, die obere und untere Integrationsgrenze als -Werte einsetzt und beide Werte voneinander subtrahiert. Anschließend muss das Integral berechnet werden und dessen Wert vom Zwischenergebnis subtrahiert werden.
Die Methode der partiellen Integration wird insbesondere dann verwendet, wenn eine der beiden Teilfunktionen eine Potenzfunktion mit ist. Bei einer derartigen Funktion ist die -te Ableitung ein konstanter Wert, der beim Integrieren gemäß Gleichung (14) als konstanter Faktor vor das Integral gezogen werden kann. Gegebenenfalls muss folglich die Methode der partiellen Integration wiederholt angewendet werden (maximal mal), um die jeweils auf der rechten Seite stehenden (Teil-)Integrale der Form schrittweise zu berechnen.
Integration durch Substitution
Die Methode der Integration durch Substitution entspricht formal einer umgekehrten Anwendung der Kettenregel bei Ableitungen:
Hierbei wurde geschrieben. Man kann mit dieser Substitution nach einer Stammfunktion von suchen, in gleicher Weise als würde man lediglich anstelle von schreiben und somit eine Stammfunktion zu suchen. Hat man eine solche Stammfunktion gefunden, so genügt es, bei dieser Stammfunktion wiederum durch den Ausdruck zu ersetzen.
Möchte man mit dieser Methode ein bestimmtes Integral von bis berechnen, so müssen allerdings auch die Integralgrenzen umgerechnet werden. Es gilt:
Da bekannt ist, müssen lediglich die Integrationsgrenzen in diese Funktion eingesetzt werden, um die neuen Integrationsgrenzen zu erhalten.
Integrale der Form
Soll das Integral einer zusammengesetzten Funktion berechnet werden, deren Zähler der Ableitung des Nenners entspricht, so kann folgende Regel verwendet werden:
Hat die Funktion im Intervall keine Nullstelle, so gilt für das bestimmte Integral über von bis :
Weitere Integrale können Integraltabellen entnommen werden, beispielsweise Integraltabelle (HS Esslingen).
Anmerkungen:
[1] | Das Gleichheitszeichen in der obigen Gleichung gilt nur für konstante -Werte, also Funktionen der Form |
[2] | Auch in diesem Fall ist die Integration die Umkehrung der Differentiation, denn die Ableitung der natürlichen Logarithmusfunktion ist gerade . |
[3] | Formal ist Gleichung (15) zur Berechnung der Fläche zwischen zwei Funktionsgraphen mit Gleichung (13) als Distributivgesetz der Integralrechnung identisch. |
Hinweis
Zu diesem Abschnitt gibt es Übungsaufgaben.