Differenzen und Differentiale¶
Das Steigungsdreieck¶
Um die Bedeutung der Steigung einer Funktion zu verstehen, wird zunächst die Steigung einer Geraden betrachtet. Ein anschauliches Beispiel bietet eine Holzleiste oder ein Lineal, das schräg auf einer geraden Unterlage aufgestellt wird.

Modell eines Steigungsdreiecks. Durch Messen der Höhe und Länge
kann die Steigung einer schrägen Holzleiste bestimmt werden.
Umso schneller die Höhe entlang der horizontalen Wegstrecke
zunimmt, d.h. umso steiler das Lineal aufgestellt ist, desto größer ist die
Steigung.
Ein solches „Steigungsdreieck“ kann in einem gewöhnlichen Koordinatensystem an jede Gerade angelegt werden. Wandert man von einem (frei wählbaren) Punkt auf der Geraden beispielsweise fünf Kästchen horizontal nach rechts und zählt dann die Anzahl an Kästchen, die man horizontal nach oben oder unten zurücklegen muss um wieder auf die Gerade zu treffen, so hat man ein Maß für die Steigung der Gerade gewonnen.
Beispiele:
- Eine Gerade, die entlang einer horizontalen Strecke von fünf Kästchen nach rechts um drei Kästchen nach oben ansteigt, ist weniger steil als eine Gerade, die entlang der gleichen horizontalen Strecke (fünf Kästchen) um sieben Kästchen nach oben steigt.
- Eine Gerade, die entlang einer horizontalen Strecke von drei Kästchen nach rechts um vier Kästchen nach oben ansteigt, ist steiler als eine Gerade, die entlang der gleichen horizontalen Strecke (drei Kästchen) um zwei Kästchen nach oben steigt.
- Eine Gerade, die entlang einer horizontalen Strecke von vier Kästchen nach rechts um acht Kästchen nach oben ansteigt, ist genauso steil wie eine Gerade, die entlang einer horizontalen Strecke von sechs Kästchen um zwölf Kästchen nach oben steigt.
Mathematisch kann das Verhältnis zwischen der vertikalen Änderung und der horizontalen Änderung
als
Bruch geschrieben werden:
(1)¶
Da die beiden Änderungsgrößen und
die gleiche
Einheit (z.B. Kästchen oder cm) besitzen, besitzt die Steigung keine Einheit.
- Der Wert der Steigung ist positiv, wenn mit zunehmenden
-Werten die zugehörigen
-Werte größer werden.
- Die Steigung ist gleich Null, wenn mit zunehmenden
-Werten die zugehörigen
-Werte unverändert (konstant) bleiben.
- Eine negative Steigung bedeutet entsprechend, dass mit zunehmenden
-Werten die zugehörigen
-Werte kleiner werden.

Das Verkehrszeichen weist auf einen Berg mit einer (durchschnittlichen) Steigung von 12 Prozent hin.
Die Steigung kann auch in Prozent angegeben werden. Eine Steigung von 100%
bedeutet beispielsweise, dass die Gerade mit jedem Kästchen nach rechts um genau
ein Kästchen nach oben steigt. Da jedes Steigungsdreiecks rechtwinklig ist, kann
für beliebige Steigungen kann der Steigungswinkel mit Hilfe der
trigonometrischen Beziehung
berechnet werden:
Eine Steigung von oder
bedeutet gerade, dass je
horizontaler Wegdifferenz
eine ebenso große vertikale
Wegdifferenz
vorliegt; dies ist genau dann der Fall, wenn
ist.
Differenzen- und Differentialquotient¶
Die meisten Funktionen haben keine einheitliche Steigung. Vielmehr nimmt die Steigung an verschiedenen Stellen unterschiedliche Werte an, kann mitunter in unterschiedlichen Bereichen auch das Vorzeichen wechseln.
Um die durchschnittliche Steigung einer beliebigen Funktion in einen
bestimmten Bereich zwischen einem Startwert
und einem Endwert
angeben zu können, kann man die Funktionswerte
und
an den Bereichsgrenzen mit einer
Geraden verbinden und ein entsprechendes Steigungsdreieck einzeichnen. Die
Steigung dieser – üblicherweise als „Sekante“ – bezeichneten Geraden ist nach
Gleichung (1) durch den „Differenzenquotient“
einfach zu berechnen und entspricht der mittleren Steigung der
Funktion
im betrachteten Bereich.
(2)¶
Dabei bezeichnet den Winkel, den die
Sekante mit der Horizontalen einschließt.
Der Wert der Steigung einer Funktion an einer einzigen Stelle
lässt sich mit zunehmender Genauigkeit ermitteln, wenn der Bereich um
die Stelle
immer kleiner („feinmaschiger“) gewählt wird. Im
Grenzfall ist
und somit auch das Steigungsdreieck winzig klein.
Die Sekante wird hierbei zu einer Tangente, die den Funktionsgraphen
augenscheinlich nur noch in einem einzigen Punkt berührt. Für die Steigung der
Tangente gilt also:
(3)¶
Dabei bezeichnet den Winkel, den die
Sekante mit der Horizontalen einschließt.
Das Schrumpfen des angelegten Steigungsdreiecks um einen bestimmten Punkt herum
ähnelt gewissermaßen dem Zusammenziehen eines Knotens. In der mathematischen
Symbolik wird bei „infinitesimal“ kleinen Steigungsdreiecken anstelle des
griechischen Großbuchstabens der Kleinbuchstabe
geschrieben. Der Differenzenquotient
wird dabei zum so genannten Differentialquotienten
:
Differenzierbarkeit an einer Stelle
¶
Die Steigung einer Funktion an einer Stelle
ist
nur dann eindeutig festgelegt, wenn die Steigungen in der unmittelbaren
Umgebung links und rechts der Stelle gleich sind. Dies ist fast immer der Fall,
doch es gibt Ausnahmen.
Beispiel:
- Der Graph der Betragsfunktion
besitzt einen Knick an der Stelle
. Zeichnet man ein Steigungsdreieck links und rechts dieser Stelle ein, so besitzt die Steigungsgerade auf der linken Seite die Steigung
, auf der rechten Seite hingegen den Wert
. An der Stelle
ist die Steigung nicht festgelegt – die Funktion ist an dieser Stelle nicht differenzierbar.
Anschaulich sind Funktionen dann differenzierbar, wenn sich die Steigung ihrer Graphen kontinuierlich ändert, die Graphen also keinen „Knick“ besitzen. Hierauf ist insbesondere an den Bereichsgrenzen von abschnittsweise definierten Funktionen (z.B. Signumsfunktion, Betragsfunktion, Stufenfunktion, usw.) sowie an Polstellen von gebrochen-rationalen Funktionen zu achten.
Besitzt eine Funktion eine Definitionslücke, so kann an dieser Stelle nichts über die Differenzierbarkeit der Funktion ausgesagt werden.
Um die Steigung unmittelbar links und unmittelbar rechts der Stelle
berechnen zu können, wählt man die Stelle
selbst als Bereichsgrenze.
Wählt man als zweite Bereichsgrenze
-Werte, die nur ein wenig kleiner
bzw. größer als
sind, so erhält man Steigungsdreiecke, die
unmittelbar links bzw. rechts der untersuchten Stelle an der Funktion anliegen.
Mathematisch lassen sich die beiden unmittelbar angrenzenden Steigungen wie folgt ausdrücken:
Stimmen die beiden Grenzwerte auf linken und auf der rechten Seite der Stelle
überein, so ist die Funktion an dieser Stelle
differenzierbar, und der Wert ihre Steigung ist gleich dem Steigungswert der
beiden Grenzwerte.
Beispiel:
Die Funktion
soll auf Differenzierbarkeit an der Stelle
hin untersucht werden.
Um die Betragstriche weglassen zu können, zerlegt man die Funktion in zwei Teilfunktionen
und
. An der Stelle
gilt somit für den linksseitigen Grenzwert:
Hierbei wurde jeweils
eingesetzt und die Betragsfunktion in Abhängigkeit des Vorzeichens von
ausgewertet. Der linksseitige und der rechtsseitige Grenzwert stimmen nicht überein, die Funktion ist somit an der Stelle
nicht differenzierbar.
An jeder anderen Stelle, beispielsweise
, ist die Funktion
jedoch differenzierbar, denn dabei gilt:
Dieser Wert des Differentialquotienten gilt in diesem Fall sowohl für positive wie für negative
-Werte, da diese im Vergleich zu
klein sind und daher keine Auswirkung auf das Vorzeichen der Betragsfunktion haben.
Herleitung von Ableitungsregeln¶
Um die Steigung einer Funktion für beliebige Punkte angeben zu
können, ist es nützlich, eine Funktion
zu finden, deren
Funktionswerte eben den Werten der Steigungen von
entsprechen. Die
Funktion
wird dabei als „Ableitung“ von
, die
Bestimmung von
als „Ableiten“ von
bezeichnet.
Um eine allgemeine Ableitungsregel für beliebige -Werte herzuleiten,
wird zunächst der Differentialquotient für die betrachtete Funktion aufgestellt.
Durch geschickte Umformungen versucht man anschließend, den zu untersuchenden
Term auf bekannte Grenzwerte hin zurückzuführen (beispielsweise gegen Null
konvergierende Terme). Als Ergebnis erhält man dann einen Ausdruck, der die
Ableitung
der Funktion angibt.
Beispiele:
Die Ableitung für die Funktion
soll anhand des Differentialquotienten bestimmt werden.
Der Differentialquotient für diese Funktion lautet allgemein:
In der zweiten Zeile wurde hierbei zunächst die binomische Formel ausmultipliziert, wobei sich die
-Terme wegen des unterschiedlichen Vorzeichens aufheben. Anschließend wurde im Zähler
ausgeklammert und gekürzt.
Für die Funktion
ist die zugehörige Ableitungsfunktion somit
.
Die Ableitung für die Funktion
soll anhand des Differentialquotienten bestimmt werden.
Der Differentialquotient für diese Funktion lautet allgemein:
In der zweiten Zeile wurde hierbei wiederum die binomische Formel ausmultipliziert, wobei sich die
-Terme und
-Terme jeweils wegen der unterschiedlichen Vorzeichen aufheben. Anschließend wurde im Zähler
ausgeklammert und gekürzt; im resultierenden Ausdruck geht der Term
wegen
gegen Null.
Für die Funktion
ist die zugehörige Ableitungsfunktion somit
.
Glücklicherweise wurden, wie in den nächsten Abschnitten näher beschrieben ist, mit Hilfe der obigen Methode für alle elementaren Funktionen allgemeine Ableitungsregeln hergeleitet, so dass man die Ableitung einer Funktion in praktischen Anwendungen sehr häufig mit deutlich weniger Rechenaufwand bestimmen kann.